Im Notfall punktgenaue Handy-Ortung
Die Rettungsleitstelle Main-Tauber kann durch Handy-Ortung mittels AML (Advanced Mobile Location) und what3words punktgenau Verletzte lokalisieren und somit schneller finden.
Main-Tauber-Kreis.Pauline, 13 Jahre, erkundet an diesem Nachmittag mit ihrem Fahrrad entlegene Wald- und Wiesenwege im ländlichen Main-Tauber-Kreis. Mama Nicole ist direkt hinter ihr, doch da passiert das Unglück.
Als Pauline ein Reh entdeckt, achtet sie einen Moment lang nicht auf den Weg und streift mit dem Vorderrad einen dicken Ast, der sich unglücklicherweise in den Fahrradspeichen verfängt. Das Mädchen wird über den Lenker geschleudert und bleibt ohnmächtig am Wegesrand liegen.
Nach kurzer Schockstarre eilt Mutter Nicole zu ihrer Tochter und wählt direkt die Notrufnummer 112. Sie weiß weder genau, wo sie ist, noch gibt es in Sichtweite einen Kilometerstein, einen markanten Orientierungspunkt oder gar ein Straßenschild.
Als ihr Notruf die integrierte Leitstelle für Feuerwehr und Rettungsdienst in Bad Mergentheim erreicht, sagt sie nach einem knappen Lagebericht nur drei Worte: „Bestärkt. Zirkel. Blaumeise.“
Zwei mobile Notrufsysteme
Was für Außenstehende wie wirres Zeug klingen mag, ermöglicht aber dem Mitarbeitenden in der Leitstelle in kürzester Zeit die punktgenaue Ortung von Pauline und Nicole im Neunkirchener Wolfental. Denn die Leitstelle, die vom DRK-Kreisverband Bad Mergentheim zusammen mit dem Main-Tauber-Kreis betrieben wird, verfügt über gleich zwei mobile Notrufsysteme zur Handy-Ortung mittels GPS: AML (Advanced Mobile Location, Deutsch: fortschrittliche mobile Ortung) und what3words (Deutsch: welche drei Wörter).
„Beide Systeme arbeiten bis auf wenige Meter genau und sind gerade in Wald und Feld, wo es weder Straßenschilder noch Hausnummern gibt, eine wertvolle Unterstützung, um im Notfall nicht nur schnell, sondern vor allem genau an der Stelle anzukommen, wo sich der Hilfesuchende befindet“, erklärt Matthias Hofmann, Leiter der Integrierten Leitstelle Main-Tauber. Da ein Großteil der 112-Anrufe von Mobiltelefonen getätigt werde, sei die Handy-Ortung per Satellit mittlerweile unerlässlich, ergänzt Professor Dr. Thomas Haak, Präsident des DRK-Kreisverbands Bad Mergentheim.
Dr. Thomas Haak ist zudem regelmäßig als Notarzt im Main-Tauber-Kreis tätig und zieht nach einem Jahr Handy-Ortung eine durchweg positive Bilanz: „Mithilfe von AML und what3words lassen sich Verletzte in schwer zugänglichen oder besonders weitläufigen Gebieten quasi punktgenau lokalisieren. Ohne diese Programme bleibt nur eine Ortung über den Funkmast, in den sich das Mobiltelefon einwählt.“ Da das zugehörige Gebiet in der Regel mehrere Quadratkilometer umfasse, verliere das Rettungsteam so wertvolle Zeit. Zeit, die im absolut schlimmsten Fall Leben kosten kann.
Die Funktionsweise
Doch wie genau funktionieren nun die beiden mobilen Notrufsysteme? Auch das erklärt Matthias Hofmann in Kürze: „What3words hat die ganze Welt in drei mal drei Meter große Quadrate eingeteilt, und mit drei leicht auszusprechenden Wörtern in 35 Landessprachen gekennzeichnet. Diese stehen wiederum für die exakt passenden GPS-Koordinaten des jeweiligen Standorts. Wenn der Anrufer über die 112 also diese drei Wörter bei uns in der Leitstelle nennt, wissen wir genau, auf welchen neun Quadratmetern im Main-Tauber-Kreis er sich befindet und können umgehend das Rettungsteam dorthin schicken.“
Zum Abrufen der drei Wörter könne entweder die kostenlose what3words-App genutzt werden oder der Leitstellenmitarbeiter übermittelt per SMS einen Link an das Handy des Anrufers. Über diesen lassen sich die GPS-Codewörter ebenfalls abrufen und anschließend telefonisch durchgeben.
AML hingegen benötige keine Internetverbindung, so Matthias Hofmann weiter. „Sobald die 112 gewählt wird, gibt das Betriebssystem des Mobiltelefons automatisch Telefonnummer und GPS frei – selbst dann, wenn dies zum Stromsparen deaktiviert worden ist.
Während des Anrufs werden dann mehrfach Positionsdaten an die Rettungsleitstelle Main-Tauber gesendet, welche eine immer genauere Eingrenzung des Notruf-Standorts möglich machen, während das Rettungsteam bereits auf dem Weg ist.“
Doppeltes Sicherheitsnetz
Gerade wenn Sprachbarrieren vorhanden sind oder das Handynetz schwach ist, bestehe zudem die Möglichkeit, what3words als Ergänzung zu AML heranzuziehen. „Per GPS generieren wir dann buchstäblich ein doppeltes Sicherheitsnetz“, erläutert Matthias Hofmann. Auch um den Datenschutz müsse man sich keine Gedanken machen: AML ist sowohl über deutsches als auch über das EU-Recht abgesichert. GPS-Koordinaten werden lediglich für die Anrufdauer an die 112 übermittelt. Diese werden gemeinsam mit den zusätzlich abgerufenen Daten wie Telefonnummer und dem Zeitpunkt des Notrufs nach 60 Minuten automatisch gelöscht.
Doch eine Stunde Zeit ist durch das flächendeckende DRK-Netzwerk an Dienststellen im Main-Tauber-Kreis mehr als nur ausreichend, um Pauline und Nicole am Unfallort im Neunkirchener Wolfental zu erreichen.
Die GPS-Daten über what3words haben das Auffinden des Unfallorts präzise ermöglicht. Bereits nach wenigen Minuten sind Notarzt und Rettungsteam zugegen. Sie prüfen Paulines Atmung und weitere wichtige Körperfunktionen, legen einen Kopfverband an und schienen vorsorglich das verletzte rechte Bein des Mädchens.
Als sie mit Mama Nicole in den Rettungswagen gebracht wird, kommt sie bereits langsam wieder zu sich. drkbm
© Fränkische Nachrichten, Mittwoch, 11.11.2020