Viel Blut und laute Schreie für Leitende Notärzte im Main-Tauber-Kreis nicht maßgebend
An einer Unglücksstelle mit mehreren Verletzten stellt sich sofort die Frage, wer als erstes und wer von wem versorgt wird. Ein Job für den Leitenden Notarzt.
Main-Tauber-Kreis/Bad Mergentheim. „Gehe ich als Notarzt zuerst zu dem, der am lautesten schreit? Oder zu dem, der am meisten blutet?“ Diese Fragen an der Einsatzstelle seien nicht entscheidend, sondern vorrangig die Verletzungsmuster, sagt der Experte. Es gelte sich schnell einen Überblick zu verschaffen und dann wichtige Entscheidungen zu treffen.
„Der zusätzlich alarmierte Leitende Notarzt übernimmt die Führung unter allen Notärzten an einer großen Unglücksstelle, er koordiniert, verteilt die Aufgaben und Patienten, klärt welche Transporte mit welchen Mitteln und in welche Klinik gemacht werden – und das macht er im Team mit dem organisatorischen Leiter des Rettungsdienstes und wir beide bilden dann auch wieder die Schnittstelle zu den Einsatzleitern der Feuerwehr und der Polizei vor Ort“, berichtet Professor Dr. Thomas Haak aus seiner fast 30-jährigen Erfahrung als Leitender Notarzt. Hauptberuflich ist er Chefarzt der Diabetes-Klinik Bad Mergentheim und zudem noch ehrenamtlicher Präsident des DRK-Kreisverbandes Bad Mergentheim sowie der ärztlich Verantwortliche im Rettungsdienst.
Vier feste Notarztstandorte
Im Main-Tauber-Kreis gibt es vier feste Notarztstandorte, die stets besetzt sind: Wertheim, Tauberbischofsheim, Bad Mergentheim und Creglingen. Sie werden aus einem Pool von zirka 60 Notärzten wechselweise bestückt. Acht von ihnen sind auch als Leitende Notärzte tätig und auf die Alarmierungsschleife „Nord“ für den Bereich Wertheim bis Tauberbischofsheim und die Schleife „Süd“ für den Raum Bad Mergentheim bis Creglingen verteilt. „Über die bundesweit verwendete Blaulicht-App werden sie durch die Integrierte Leitstelle im Ernstfall hinzu alarmiert, wenn schwere Verkehrsunfälle, Großbrände, Bus- oder Zugunglücke einen größeren Einsatz an Rettungskräften erwarten lassen“, so Prof. Haak, der weiter erklärt: „Wer zuerst auf seinem Smartphone den Einsatz rückbestätigt hat dann ,den Job’.“
Zügig verschafft sich der Leitende Notarzt einen Überblick und informiert dann die Leitstelle, „wie viele Rettungswagen und Notärzte noch zusätzlich anrücken müssen, ob der Rettungshubschrauber gebraucht wird, welche Spezialkliniken für die optimale Weiterversorgung benötigt werden“, erläutert Haak und fügt an: „Der richtige Patient muss vom richtigen Kollegen versorgt, der richtige Transport organisiert und die richtige Klinik für das Verletzungsmuster am Ende angesteuert werden.“
Busunglück mit 50 Kindern
Haaks bislang größter Einsatz war ein Busunglück mit rund 50 Jugendlichen in den 1990er Jahren – da tat er noch im Rheingau-Taunus-Kreis als junger Leitender Notarzt Dienst: „Der Unfall passierte auf der Autobahn, der Bus landete zum Teil in einem nahen Bach und zwei Kinder waren schwer eingeklemmt, sie wurden vom Wasser umspült. Das war für alle extrem fordernd. So viele hilfsbedürftige Opfer, so viele Rettungskräfte. Es dauerte etwa eine Stunde bis die beiden letzten Kinder endlich befreit waren. Insgesamt zwei Jugendliche starben. Das vergisst man nicht.“
Sofort erinnert sich Haak auch an den schweren Unfall vor einigen Jahren zwischen Creglingen und Klingen, als ebenfalls ein Kind starb oder den Großbrand einer Metzgerei samt Lokal am Rand von Königheim. „Da bin ich hingekommen und stellte schnell fest, dass das Versorgungszelt der DRK-Rettungskräfte an der falschen Stelle errichtet wurde, nämlich dort, wo der Rauch hinzog. Also hieß es, alles abbauen und auf die andere Seite wechseln“, so Haak.
Seine Anspannung im Einsatzfall ist immer noch groß, gibt er unumwunden zu, „aber mir hilft dann die Erfahrung“. Das Reflektieren nach dem Einsatz gehöre ebenso dazu, wie das Verarbeiten und Abhaken.
Viele Notärzte im Landkreis stellen die Krankenhäuser, dazu kommen niedergelassene Ärzte – und weil dies schon lange nicht mehr ausreicht, alle Schichten zu besetzen, gibt es zusätzlich eine überregionale „Notarzt-Börse“. Prof. Haak spricht von einer höchst professionellen Zusammenarbeit mit dem Plattform-Betreiber, der sehr darauf achte, dass die von auswärts anreisenden Ärzte für die Notfalldienst-Schicht richtig ausgebildet und immer pünktlich seien.
Zur Qualität im Notarztbereich meint Haak: „Die hat sich in den letzten 20 Jahren steil nach oben entwickelt.“ Er verweist auf die Ausstattung der Rettungswachen, die Verteilung der Fahrzeuge im Landkreis und die moderne Technik. „Unser Flächenlandkreis kann mit jedem Notarztstandort in einer Großstadt mithalten“, sagt Prof. Haak voller Überzeugung und spricht von einer „exzellenten Zusammenarbeit“ mit dem Landratsamt und den Kostenträgern, „die hier keine Kosten und Mühen scheuen, um die bestmögliche Notarztversorgung für die Bürger sicherzustellen“.
„Leitstelle ist super Beispiel“
Die Integrierte Leitstelle in Bad Mergentheim sei ein „super Beispiel für eine positive Digitalisierung“. Wenn der Notruf eingehe, sehe der Disponent schon, von woher dieser komme. Haak weiter: „Die Computer schlagen die richtigen Rettungsmittel vor, die Fahrzeugbesatzungen sehen auf ihrem Tablet im Wagen bereits das Einsatzszenario vor sich, plus die Navigation zur Einsatzstelle. Vor Ort werden die Patienteninformationen digital erfasst und im Krankenhaus erscheint auf dem Arrival-Board die Anzeige, wer gleich in welchem Zustand eingeliefert wird – das ist gigantisch gut!“
Was sich trotz aller Technik aber nicht verkürzen lässt, sind die (teils langen) Wege über Land. In 95 Prozent aller Fälle in einem Rettungsdienstbereich, wie beispielsweise dem südlichen Teil des Main-Tauber-Kreises, müssen laut vorgegebener Hilfsfrist Rettungswagen und Notarzt in spätestens 15 Minuten vor Ort sein. „In einem ausgedehnten Flächenkreis wie dem unseren kaum zu schaffen“, meint Prof. Haak kritisch in Bezug auf die politischen Vorgaben und verweist auf ähnliche Probleme, die 95-Prozent-Marke immer einzuhalten, auch in anderen ländlichen Regionen.
Von zu Hause in den Einsatz
Um Minuten bei der Anfahrt einzusparen, sind die Notärzte im Main-Tauber-Kreis nun in ihren Schichten an die Rettungswachen gebunden. Früher durften sie sich im Nahbereich der Wache wohnend auch zu Hause aufhalten und dort nachts schlafen und wurden im Einsatzfall vom Notarzteinsatzfahrzeug abgeholt und zur Unglücksstelle gebracht. „Dadurch hatten wir mehr freiwillige Notärzte zur Verfügung, doch seit dies abgeschafft wurde, haben wir viele erfahrene Notärzte verloren, die jetzt leider nicht mehr mit im Dienst sind“, bedauert Prof. Haak. Auch dies führe letztlich dazu, dass man sich nun sein Personal über Notarzt-Börsen auswärts besorgen müsse.
Für pragmatischeres Vorgehen
„Ich wünschte mir ein pragmatisches Vorgehen der Politik, statt ein Beharren auf allzu starre Hilfsfristen, schließlich wollen wir hervorragende und engagierte Ärzte im Einsatz haben, die sich am besten vor Ort auch noch gut auskennen“, so Haak, der eine Verbesserung der Hilfsfristen-Werte „von unter einem Prozent“ durch die vorgenommenen Schichtdienst-Änderungen seit knapp einem Jahr ausmacht.
Froh ist er, dass die Bezahlung der freiwilligen Notarztdienste inzwischen nachgebessert und „sehr gut gelöst ist“. Die Stundenhonorare wurden angepasst.
„Ich bin mit der Situation im Main-Tauber-Kreis, wie wir sie jetzt haben, äußert zufrieden und habe derzeit keine offenen Wünsche“, erklärt Thomas Haak in seiner persönlichen Bilanz und ergänzt abschließend: „Die hiesige Bevölkerung ist, was die rettungsdienstliche Versorgung angeht, sehr gut beim DRK aufgehoben.“